Lassen Sie mich diesen zweiten Beitrag zu Elliott und
Fibonacci mit einem von mir verfassten, elf Jahre altem Zitat beginnen, das
keineswegs so polemisch gemeint war wie es sich vielleicht liest:
"Gestern bei ALDI gesehen: 3lagiges Toilettenpapier im 8er-Pack mit 233
Blatt pro Rolle für 377 (Pfennige), das 2 entscheidende Vorteile bietet. -
Donnerwetter, gleich fünf Fibonacci-Zahlen! Zudem ergibt die Quersumme der
Buchstabenstellung des Namens ALDI im Alphabet mit 8 erneut eine Fibonaccizahl!
Zweifellos ideal für jeden Analysten-A.... ."
Zwei Dinge muss ich heute zu diesem Zitat ergänzen: Zum einen war ich damals
und noch lange Zeit danach ein begeisterter Anhänger der Elliott-Wellen, der
sich mit entsprechenden, im Rückblick verblüffend treffisicheren Prognosen
auch wiederholt in n-tv vorwagte. Zum anderen litt ich schon damals unter einer
ausgesprochen therapieresistenten Abneigung gegen pseudowissenschaftliche
Argumentationen und Theorien und all den schlimmen Unfug, der daraus entstehen
kann.
Im konkreten Fall ging es mir darum, die Behauptung der Elliottisten zu
hinterfragen, dass es sich bei den Fibonacci-Zahlen und den aus ihnen
ableitbaren mathematischen Relationen um ein "universelles" Prinzip
handelt. Es ist unbestritten, dass sich in vielen Phänomenen von Architektur,
Medizin, Biologie, Mathematik und Astronomie entsprechende Beispiele für den
"Goldenen Schnitt" finden (s. Teil 1 dieser Kolumne, aufzufinden unter
dem Button "Archiv"). Gemessen an der Gesamtheit der in der Welt und
unserem Wissen darüber vorkommenden Strukturen ist deren Zahl allerdings
definitiv völlig vernachlässigbar. Zahlreicher, wie am
"Hinter-Grund" des ALDI-Zitats demonstiert, finden sich da schon zufällige
Häufungen von Fibonacci-Zahlen oder -Relationen, denen aber faktisch keinerlei
Gesetzmäßigkeit unterliegt.
Nun aber zu den Börsen!
Elliott-Wellen: Ein perfektes Analysetool - zur Erklärung vergangener
Kursbewegungen
Machen Sie bitte folgendes Experiment. Erstens: Nehmen Sie den uralten Chart
eines x-beliebigen, möglichst wenig bekannten Aktien-Index, die sich seit
mindestens zwei Jahren in einem stabilen Aufwärtstrend befindet und löschen
Sie den Namen des Index heraus. Wichtig ist, dass der entsprechende Aktienmarkt
auch im kommenden Jahr weiter nach oben gelaufen ist. Fertigen Sie hiervon nun
jeweils einen Tageschart, einen Wochenchart und einen Monatschart an und
schicken Sie diese drei Ausdrucke an fünf unabhängig voneinander arbeitende
Elliott-Wellen-Anhänger und bitten Sie um eine aktuelle Zählung, die Prognose
des Kursverlauf der kommenden 6 Monate und die Angabe des nächsten markanten
Kurspunktes. Was Sie zurückbekommen werden, wird von verblüffend genau
nachgewiesenen 0,618-, 1:1- und 1,618-Proportionen nur so wimmeln. Außerdem
werden "gute" Ausarbeitungen Sie mit entsprechenden Resistance- und
Support-Zones versorgen und Sie werden feststellen, wie scheinbar perfekt sich
der Index an ein Fibonacci-Zeitmuster gehalten haben, deren Startpunkt
allerdings von Analyst zu Analyst überraschend unterschiedlich ausgefallen sein
könnte. Die Quintessenz der Analysen dürfte Sie vermutlich ins Grübeln
bringen: Denn ungeachtet des mathematische Genauigkeit suggerierenden Zählwerkes
werden Sie wahrscheinlich fünf verschiedene Kursziele und Zählungen genannt
bekommen. Dank des oben als Voraussetzung genannten, stabilen Aufwärtstrends
werden die Analysen hingegen weitgehend einig darin sein, dass der Aufwärtstrend
nur noch wenige Punkte Spielraum hat oder bereits abgeschlossen ist.
Entsprechend bearish dürften die Prognosen für die kommenden Monate ausfallen.
Aus "falsch" wird "um so richtiger" geboren?
Zweitens: Nach sechs Monaten aktualisieren Sie die Charts um ein halbes Jahr und
bitten um eine neue Analyse. Wieder werden Sie sehr wissenschaftlich anmutende
Analysen bekommen, die Ihnen, jede wahrscheinlich anders, sehr genau belegen können,
warum die alte Prognose nicht zutreffend war und warum der Haussetrend erst
jetzt, nun aber um so sicherer, unmittelbar vor dem Abschluss steht.
Was, frage ich mich, will ein ernsthafter Analyst mit einer Theorie, die bei
verschiedenen Anwendern die unterschiedlichsten Ergebnisse hervorbringt und im
Falle des Scheiterns kritiklos und um so vehementer den Anspruch auf ihre
Berechtigung anmeldet?
Zufall ist das nicht. Das Grundprinzip der Elliott-Wellen, also ein fünfwelliger
Aufwärtsimpuls, der aus drei Aufwärtswellen und zwei Korrekturwellen besteht,
ist in einem Haussemarkt relativ schnell aufzuspüren, selbst wenn Sie das ganze
Elliott-Regelwerk berücksichtigen. Und: Läuft der Markt gegen Ihre Prognose,
so versorgt Sie die Theorie stets wieder mit einer neuen, gleich noch schlüssiger
anmutenden, "besseren" Erklärung für die kommenden Ereignisse. Denn
schließlich ist es Ihnen ja gerade gelungen, eine offensichtlich nicht
zutreffende Wellenzählung zu identifizieren. Genau das ist auch der
Hauptkritikpunkt, der sich gegen die Elliott-Wellen vorbringen lässt: Dass sie
per Definition niemals "falsch sein können".
Karl Popper hat das Kriterium der "Falsifizierbarkeit" in seinen
wissenschaftstheoretischen Arbeiten als eines der entscheidenden Merkmale für
eine wissenschaftliche Theorie herausgearbeitet: Sie muss vom Ansatz und der
Konstruktion her falsch und widerlegbar sein können. Die Elliott-Wellen erfüllen
diesen Anspruch nicht.
Das eigentlich Dramatische daran ist nicht, dass die Elliott-Anwender sich damit
stets im exklusiven Besitz der analytischen Wahrheit wähnen; das Dramatische
ist vielmehr, dass die Elliott-Jünger in aller Regel die lukrativsten
Marktbewegungen, nämlich die wirklich lang anhaltenden Trends, verpassen und
sich, quasi durch die Theorie "gezwungen", permanent auf den
Gegenschlag nach unten gefasst machen.
Es steht Ihnen frei, so lange an den von mir beschriebenen Ergebnissen des
Experiments zu zweifeln, bis Sie es gemacht haben. Mein Fazit lautet:
a) In Haussemärkten ist eine simple, korrekt angelegte charttechnische Aufwärtstrendlinie
zwar weniger aufwendig als Elliott-/Fibonacci-Analysen, dafür bewahrt Sie sie
im Gegensatz zu diesen Analysen aber vor einem verfrühten Glattstellen von
Long-Positionen und/oder dem (noch kostspieligeren) voreiligen Opening von
Short-Trades.
b) Seitwärts gerichtete, trendlose Märkte sind mit Elliott-Wellen nicht besser
beherrschbar als mit anderen Analyseansätzen.
Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest, keine Elliott-Wellen-Software
unter dem Tannenbaum und ein erfolgreiches und gesundes Neues Jahr.
Axel Retz
PS: Und bleiben Sie, wie in der vorletzten Kolumne empfohlen, weiter long im
Euro und im Bund! Aktien sind noch kein Thema!
Original auf http://nachrichten.boerse.de/anzeige668550.php3?id=21429