Vorab: Als ich Ihnen vor zwei Wochen an dieser Stelle als
potentielle Gewinnmärkte aus gutem Grund einzig und allein den Euro gegen den
Greenback und die Rentenmärkte empfahl, hatte der gute Elliott seine Finger
nicht im Spiel. Jetzt aber zum Thema: Wie aufmerksame Leser dieser Kolumnen
wissen, plant einer meiner geschätzten Mit-Kolumnisten seit längerem einen
Beitrag zu den Elliott-Wellen. Einen positiven, vermutlich. Lassen Sie mich
heute und in den kommenden Kolumnen Stellung zu diesem Analyseverfahren nehmen
und Sie zu Beginn zu einem kleinen Ausflug in die Vergangenheit einladen. Bitte
lesen Sie nicht weiter, wenn Sie nicht zumindest das Grundprinzip der
Elliott-Wellen kennen:
1995 war’s, ich glaube im Februar. Mit den Elliott-Wellen schon lange intensiv
vertraut, übersetzte ich seit einigen Jahren ich Monat für Monat den Börsenbrief
des wohl bekanntesten US-Elliott-"Papstes", Robert Prechter jun., in
dessen Unternehmen im US-Bundesstaat Georgia schon damals rund 70 Mitarbeiter
damit beschäftigt waren, fleißig Wellen zu zählen und die Ergebnisse ihrer
Analysen ebenso fleißig zu vermarkten. Der Anruf eines Kunden, der mich zu
einem Treffen einlud und mir eine unglaubliche, dank der Elliott-Wellen erzielte
Performance seines Depots beweisen wollte, machte mich neugierig. Also nichts
wie auf den Weg gemacht nach Frankfurt!
Neben dem "Frankfurter Hof" bietet sich für Treffen mit Unbekannten
in der Main-Metropole der "Palmengarten" an. Es ist grün dort, es ist
unverbindlich. Und es ist ggf. überdacht und warm. Mein Gegenüber, ein
sympathischer und aufgeschlossener Herr, vielleicht Mitte vierzig, gelernter
Versicherungsfachwirt, kam rasch auf den Punkt und legte Beweise für eine
wirklich faszinierend erfolgreiche Performance seines Depots vor, in dem er
wechselweise im Britischen Pfund, dann im Dax, im Nikkei, Bund-Future oder im
Kabel (Pfund/US-Dollar) getradet hatte und wirklich jedes Mal binnen Kürze
exorbitante Gewinne erzielt hatte. In der Summe war es ihm gelungen, aus einem
Anfangsbetrag von 20.000 DM binnen nur knapp eines Jahres weit über eine
Million DM zu machen.
Das Geheimnis seines Erfolges: Er investierte zumeist in "dritte
Wellen", die bekanntermaßen a) in der Regel mindestens so lang sind wie
die "erste Welle", b) in der Regel 1,618fach so lang sind wie die
"erste Welle" und c) niemals die kürzeste Welle eines Impulses sein können.
Hier und da hatte Herr X. quasi beiläufig noch eine C-Welle
"abgestaubt", wie er es salopp formulierte, um seine Performance noch
weiter hochzuhebeln.
In der Folge wurde ich mit zwei Weltuntergängen konfrontiert, von denen ich den
ersten, einen hypothetischen, bereits sattsam kennengelernt hatte. Er ereignete
sich noch während unseres Gesprächs: Fast schon beschwörend weihte mich mein
Gesprächspartner in die düstere Erkenntnis ein, dass die Weltbörsen
unmittelbar vor der schlimmsten Katastrophe stünden und dass die 1929er
Weltwirtschaftskrise und der 87er Crash im Vergleich zum kommenden Szenario eine
kleine Lachummer gewesen waren.
Das klang vertraut. Denn seit meinem ersten Kontakt mit dem "Elliott Wave
Principle" war mir aufgefallen, dass ein geradezu verblüffend großer
Anteil von Wellenzählern stets und ständig mit den schlimmsten Desastern
rechnete, die die Aktienmärkte angeblich wie leere Pizzaschachteln
zusammenfalten sollten. Noch verwunderter als über den extrem großen
Pessimistenanteil bei dieser Analysemethode war ich darüber, dass auch die von
den Börsen geschmiedete, schier unendliche Kette von Fehlprognosen die Elliott-
und Fibonacci-Analysten nicht im Geringsten zur Raison bringen konnte. Das
Gegenteil war richtig: Der von Jahr zu Jahr auf sich warten lassende Super-Gau
hatte die Konstellation der entsprechenden Märkte angeblich nur noch viel
weiter dramatisiert, so dass das Ende, das jeweils spätestens im kommenden
Monat zu erwarten war, nun noch schlimmer werden würde als alle zehn Plagen des
Alten Testaments zusammen.
Der zweite "Weltuntergang" betraf meinen Gesprächspartner. Noch rund
zwei Monate lang nach unserem Gespräch dauerte seine Erfolgssträhne an, dann
begann sein finanzieller Niedergang. Die gewonnene Million zerrann, begleitet
von immer neuen Erklärungen für die erlittenen Teilverluste und fast schon
psychopathisch selbstsicher anmutenden Versicherungen, dass es nur an der
"Ausweitung einer "Korrektur", einer "überschießenden
B-Welle", einer "failure five" oder der "Aufschlüsselung"
der C-Welle gelegen habe und dass die angekündigte Entwicklung nur noch etwas
nach hinten geschoben werden müsse." Immerhin noch ganze vier Monate lang
dauerte der Todeskampf von X’ Depot, bevor es für immer geschlossen wurde.
Dieses Schicksal ist kein Einzelfall. Aber das bedeutet noch keineswegs, das die
Theorie an sich falsch sein muss. Es könnte ja auch lediglich an ihrer
unrichtigen Auslegung bzw. Anwendung liegen. Dazu komme ich in meiner nächsten
Kolumne. Heute soll es nur um eine Einstimmung gehen. Aber: Wer mehr als eine
Handvoll von Elliott-Anwendern kennt und sich um eine unvoreingenommene
Sichtweise der Realität bemüht, wird folgendes bestätigen können:
a) Viele Vertreter der Elliott-Wellen sind eigentlich nicht mehr als
"Anwender" einer Theorie, sondern als "Jünger" eines
angeblich überlegenen, universellen und "wissenschaftlichen" Prinzips
zu verstehen.
b) Die ganz überwiegende Mehrheit aller jemals mit Hilfe der Elliott-Wellen
entwickelten Marktprognosen ist bearish - und zwar massiv bearish.
c) Die häufigst gestellte Wellenzählung identifiziert eine "Fünf aus der
Fünf aus der Fünf aus der Fünf etc.", mithin das ultimative Ende eines
historischen Hausse-Impulses.
d) Das Ausbleiben der prognostizierten Marktentwicklungen führt bei der
Mehrzahl der Elliott-Jünger nicht zur Einsicht oder gar zum Umdenken, sondern
eher zu einem noch verbisseneren Wellenzählen.
Der Goldene Schnitt, der ganz wesentliche Gemeinsamkeiten mit der
Elliott-Theorie und dem Fibonacci-Zahlenprinzip zusammenfällt und bereits von
den Azteken aufgespürt und von Leonardo Fibonacci da Pisa wiederentdeckt wurde,
findet sich in der Konstruktion von ägyptischen Pyramiden, den kosmischen
Spiralnebeln, der Musik, der Tiefseeforschung, dem Aufbau von Kristallen und,
wie man heute weiß, auch im Aufbau der menschlichen DNA. Den Anwendern der
Elliott-Wellen-Theorie dient dieser Fundus als Fundament für die Behauptung,
dass es sich hier um ein "universelles Prinzip" handeln müsse, das
sich auch in den massenpsychologischen Phänomenen der Kapitalmärkte niederschlägt.
Nicht nur angesichts dessen, dass an den Börsen mit den Elliott-Wellen nach
meiner Erfahrung kaum jemand auf Dauer(!) einen "goldenen Schnitt"
macht, eine bemerkenswert mutige Behauptung!
Axel Retz
P.S.: Beim nächsten Mal: "Elliott meets ALDI - die Kunst, Recht zu
behalten, ohne Gewinne zu erzielen"
Axel Retz ist leitender Optionsbrief-Redakteur, der TM
BÖRSENVERLAG AG.
Original auf http://nachrichten.boerse.de/anzeige668550.php3?id=20507