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Nicht
nur ältere Menschen bemerken, daß ihnen die Zeit immer schneller durch die
Finger gleitet. Auch die Jungen stöhnen bereits darunter, und eine mittlere,
im Berufsleben voll integrierte Generation hat den Seufzer „Ich habe absolut
keine Zeit" wie einen traurigen Wahlspruch auf ihr Banner geschrieben.
Irgendetwas läuft da falsch. Bei genauem Nachdenken stellt sich schnell heraus, daß die Menschen einige Kardinalfehler begehen. Gab es früher den Grundsatz, „eine Sache zu einer Zeit" zu tun, so herrscht heute die Gewohnheit, vieles nebeneinander zu machen, so daß es dann in Gleichzeitigkeit aufeinander prallt. Aber die meisten Tätigkeiten verlangen eben, daß man sich ihnen ausschließlich widmet, die anderen werden dann verschoben, eines greift ins andere, und wenn man dann keine Möglichkeit mehr hat, Zeit zu schaffen - weil man sie ja im allgemeinen nur von der Schlafzeit abknappen kann, was auf die Dauer verheerende Folgen hat -, wird das Chaos total. Und so strudeln sich die Menschen in einen nicht mehr zu bewältigenden Alltagsstreß. Wenn
„grüne" Abgeordnete allerorten von einer neuen Qualität des Wachstums
sprechen, die sich nicht auf „mehr und mehr", sondern auf „besser"
bezieht,
so sehen Psychologen es als eine vordringliche Aufgabe des Menschen von heute,
zu einer neuen Zeit-Kultur zu kommen. Die Beschleunigungsfalle, die da lautet: „Alles hat seine Zeit - nur ich habe keine", muß durchbrochen werden. Denn die Herzinfarkte und anderen Zusammenbrüche, die Menschen erleiden, haben oft nicht nur mit der Verantwortung zu tun, sondern mit dem simplen Druck des Terminkalenders. Und wie viele tödliche Unfälle gehen einfach darauf zurück, daß man es zu eilig hatte. Die Problemlösung geht von zwei Faktoren aus: Gewichtung und Einteilung. Die Frage, was wirklich sein muß, steht im Vordergrund. Und da kann man dann schon gewaltig holzen. Denn es ist erwiesen, daß die Menschen von heute sehr viel Zeit verschwenden, um irgendwelchen Zeitgeist-Phänomenen nachzujagen. Das heißt beispielsweise: Wenn eine Frau gerne einkaufen geht und aus dem mehrstündigen Bummel innere Zufriedenheit zieht, ist das in Ordnung. Artet das Einkaufen aber in den Streß aus, das Neueste zu finden, geht es in erster Linie darum, die Umwelt vor Neid erblassen zu lassen und die Freundinnen auszustechen, sollte man sich überlegen, was man da eigentlich tut. Hinter schnelllebigen Trends herzujagen und Dinge zu kaufen, die nicht dem eigenen Nutzen oder Wohlbefinden dienen - das kostet weit mehr Zeit, als man glauben sollte. Hier taucht auch wieder die Qualitätsfrage auf: Wir sind noch immer (als lebten wir in Nachkriegszeiten) so fasziniert vom Lebensstandard, daß wir die Frage der Lebensqualtität vergessen. Dinge, die man benötigt, sollten funktionell ihren Zweck erfüllen. Wenn in einer Familie drei, vier große Prestigeautos herumstehen, von denen man zwei gar nicht braucht und auch die anderen nur der Angeberei dienen, hat man Geld und auch viel kostbare Zeit (in Gedanken und Werken) auf Dinge verwendet, die das Leben nicht wirklich besser machen. Die Frage ist auch, ob man ununterbrochen danach hetzen sollte, sich alle Träume zu erfüllen - man kennt die gewisse Leere, die auftaucht, wenn man etwas bekommen hat. Kinder haben geraunzt und getrotzt, um ein Spielzeug zu erhalten. Wenn sie es haben, fliegt es in die Ecke und wird nicht angesehen. Dieses Verhalten gibt es auch bei Erwachsenen. Je besser man seine Handlungen überprüft, je weniger man sich von Emotionen und Trieben mitreißen läßt, umso mehr Kräfte werden frei - und damit auch Zeit. Das „Haben" anstelle des „Seins", eine Krankheit, die wir in das dritte Jahrtausend mitgenommen haben, hat uns auch dazu gebracht, die Erde so hemmungslos auszubeuten. Nun kann der einzelne sagen, daß er nichts damit zu tun hat, was Regierungen und große Konzerne beschließen. Und doch - jede sinnlose Autofahrt verbrennt Benzin, das wieder aus der Erde gepumpt werden muß. Die neue Zeitkultur könnte bedeuten, mit den „Öffis" zu fahren, mit denen man in manchen Fällen sogar schneller ist (weil die leidige Parkplatzsuche wegfällt) -und die einem „Zeit" geben. Eine halbe Stunde, die man in der U-Bahn vielleicht lesen kann. Und wenn es nur ein Krimi zur Entspannung ist. Oder eine Zeitung, damit man über irgendwelche Probleme einmal in Ruhe nachdenken kann, die sonst an uns vorbeirasen. Denn die abendlichen Nachrichten im Fernsehen im schnellen Lauf durch das Weltgeschehen fördern das kritische Denken ja nicht gerade. Es gibt so etwas wie ein „Hängematten-Phänomen": Warum nehmen wir uns nicht ein bißchen freie Zeit - ein bißchen Zeit für uns? Abschalten. Nicht dauernd dran sein. Joggen ist gesund, wenn man es richtig macht, aber man muß nicht immer durchs Leben rennen. Rechtzeitig einhalten, „sich Zeit nehmen“ (und wenn man sich eine freie Stunde im Kalender einträgt - damit man nicht Gefahr läuft, nichts mit sich anfangen zu können, wenn sie ungeplant da ist), das könnte das Leben schlicht und einfach besser machen. S. Sala Quelle: Samstag, Nr. 5, Seite 6, 02.02.2002 |